Als der Erfinder des Begriffs und Konzepts der „disruptiven Innovation“ dürfte der Management-Professor Clayton Christensen besser als jede andere Person entscheiden können, welche Unternehmen seine Definition dafür erfüllen und welche nicht. Tesla wollte er diesen Status bis zu seinem Tod im Januar 2020 nicht zugestehen, weil er dabei an die Eroberung von Märkten mit Hilfe von neuer Technologie dachte, die bestehende Produkte billiger macht. In einem weniger formalen Sinn aber ist unübersehbar, dass Elon Musk die Auto-Branche mit Tesla in ihren Grundfesten erschüttert. Und laut einem Digital-Manager bei BMW liegt das weniger am elektrischen Antrieb dieser Fahrzeuge als daran, dass sie von Grund auf als Software-Produkte ausgelegt sind.
Elektroauto-Disruption auf drei Ebenen
„Das Schwierige an Disruption in der Auto-Industrie ist, dass sie sich auf verschiedenen Ebenen abspielt“, schreibt Chris Lichtmannecker, bei BMW zuständig für digitale Produkt-Strategie und strategische Kooperationen, in einem aktuellen Beitrag bei LinkedIn. Nach seiner Analyse spielt sich die Umwälzung bei Elektrifizierung, Digitalisierung und neuen Formen der Mobilität gleichzeitig ab, was man einzeln betrachten müsse.
Schon der Wechsel von fossilen auf elektrische Antriebe werde häufig als Disruption bezeichnet, erklärt Lichtmannecker, der laut seinem Profil seit dem Abschluss seines Elektrotechnik- und Maschinenbau-Studiums im Jahr 2013 bei BMW arbeitet. Eigentlich aber sei dieser Teil nur eine Fortschreibung bisheriger Technologie, also nicht wirklich disruptiv: Neue Komponenten und Kompetenzen würden für den Antriebsumstieg gebraucht, aber er beinhalte kein neues Wertversprechen für Kunden und kein neues Geschäftsmodell. Also sei dieser Aspekt für die etablierten Hersteller mit ihren bestehenden Praktiken, Prozessen und Strukturen gut in den Griff zu bekommen.
Allerdings, so Lichtmannecker weiter, geht es bei Tesla eben um deutlich mehr als nur Elektroautos, nämlich auch um eine „digitale Transformation“. Dafür bräuchten etablierte Hersteller tatsächlich vollkommen neue Werkzeuge und Denkweisen. In der traditionellen Sicht würden Autos als Hardware betrachtet, die möglichst perfekt konstruiert und dann nach Integration der dafür notwendigen Systeme in die Massenproduktion über viele Jahre gebracht wird. In einer neuen Software-Sichtweise aber seien sie digitale Geräte mit einer einheitlichen und aktualisierbaren Software-Plattform, die neue Funktionen nach der Auslieferung und neue Geschäftsmodelle ermögliche.
BMW-Mann erklärt ein Tesla-Paradox
Neue Autos der traditionellen Art fangen an zu altern, sobald man damit vom Hof des Händlers fährt, wiederholt der BMW-Manager einen häufig in Tesla-Kreisen geäußerten Punkt. Das sei bisher kein großes Problem gewesen, weil Kunden keine Alternative dazu hatten. Tesla aber habe eine aktualisier- und modernisierbare Computer-Plattform geschaffen und in Fahrzeug-Hardware untergebracht – die Grundlage dafür, dass seine Elektroautos immer besser werden können, was dem Unternehmen viele Fans einbrachte.
Vielleicht enthält Lichtmanneckers Beitrag sogar eine Auflösung für das Paradox, dass die Elektroautos von Tesla bei der Hardware-Qualität oft zu wünschen übrig lassen, von den meisten Besitzern aber trotzdem geradezu geliebt werden: Wie im Silicon Valley üblich, starte Tesla mit einem Minimum Viable Product (MVP), also einem Angebot, das man so gerade noch auf Kunden loslassen kann. Das habe dafür gesorgt, dass viele aus der etablierten Branche den Elektroauto-Herausforderer anfangs nicht ernst nahmen. Doch statt ein Auto abschließend produktionsreif zu entwickeln und dann mehrere Jahre unverändert zu lassen, lerne Tesla schnell aus seinen Fehlern, höre auf die Kunden und führe ständige Verbesserungen in Form neuer Software und zum Teil auch Hardware ein.
Das sei bislang nur aus der Konsumelektronik-Industrie bekannt gewesen, dort eingeführt von Apple mit dem iPhone, und werde seit Tesla zunehmend auch von Autos erwartet. Schon bald würden Kunden nicht mehr bereit sein, zehntausende Dollar für ein Produkt auszugeben, das wahrscheinlich schon bald veraltet sei, warnt Lichtmannecker. Für traditionelle Hersteller erfordere das ein Umdenken, agile Entwicklungsprozesse wie in der Software-Branche und kurze Innovationszyklen.
Kilometer verkaufen statt ganze Autos
Schon der Aufbau eines Digital-Unternehmens ohne Altlasten ist laut Lichtmannecker schwierig, wie Tesla oder chinesische Elektroauto-Startups zeigen würden. Doch der Umbau eines bestehenden Unternehmens sei noch um mehrere Größenordnungen schwieriger, denn er erfordere nicht nur die Vision, sondern auch die Fähigkeit, ausgehend vom komplexen Status Quo einen Weg dorthin zu finden.
Der dritte Punkt des BMW-Managers schließlich könnte sogar Christensens klassische Definition von Disruption erfüllen: Der technische Fortschritt laufe auf komplett neue Auto-Geschäftsmodelle hinaus, nämlich den Verkauf von Kilometern statt der kompletten Fahrzeuge dafür, schreibt Lichtmannecker. Auto-Hersteller würden in diesem Umfeld zu Zulieferern für die Anbieter solcher Robotaxi-Dienste ohne direkte Interaktion mit Endkunden degradiert, wenn sie sich nicht selbst dort positionieren.
Wegen seiner als skeptisch wahrgenommenen Haltung gegenüber reinen Elektroautos und konkreter wegen des Festhaltens an den markentypischen großen Kühlergrills, die zudem immer größer werden, wird BMW auf Twitter häufig verspottet. Vielleicht sollte das Unternehmen lieber Manager wie Lichtmannecker auf die von Tesla-Chef Elon Musk und seinen Followern dominierte Sozial-Plattform schicken, statt wie bislang weitgehend erfolglos zu versuchen, dort mit traditionellen Stärken nach Komplimenten zu fischen.