„Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Maßnahmen“, schrieb Tesla-Chef Elon Musk am Samstag auf Twitter, und sprach sich mit Bedauern dafür aus, mehr Öl und Gas (vermutlich in Nordamerika) zu produzieren. Auch die Internationale Energie-Agentur (IEA) und die Beratungsfirma Aurora haben sich in dieser Woche mit einer Frage von weit reichender Bedeutung beschäftigt, der sich die Welt und vor allem Europa jetzt stellen muss: Wie lässt sich die Abhängigkeit von russischem Gas verringern? Beide kommen zu dem Schluss, dass einiges Potenzial dafür besteht. Laut Aurora ließe sich notfalls sogar schon der kommende Winter ganz ohne den Brennstoff aus Russland organisieren, doch die Kosten dafür wären hoch.
IEA will überhöhte Gewinne abschöpfen
Überraschungen enthält der von der IEA am Donnerstag vorgestellte 10-Punkte-Plan zur Verringerung der Abhängigkeit von Russland nicht. So rät die Agentur dazu, auslaufende Gas-Verträge nicht zu verlängern. Das sei die Grundlage für die EU, ihre Quellen stärker zu diversifizieren. Nach den Erfahrungen aus dieser Saison empfiehlt die Agentur außerdem, mehr Anreize oder auch Vorschriften für Versorger zu schaffen, rechtzeitig vor dem nächsten Winter ihre Speicher zu füllen. Außerdem könne der Gas-Bedarf durch schnellere Genehmigungen für erneuerbare Strom-Projekt gesenkt werden. Für mehr private Solarinstallationen schlägt die IEA 20 Prozent Zuschuss zu den Kosten vor.
Viel herauszuholen wäre laut ihrem Programm auch mit längeren Laufzeiten für Kernkraftwerke, weshalb sich die Agentur für eine Verschiebung von Schließungen ausspricht, die sonst Ende 2022 und 2023 anstünden. Außerdem sei der europäische Kraftwerkspark für Bioenergie nur zu etwa 50 Prozent ausgelastet und könne unter den richtigen Bedingungen deutlich intensiver genutzt werden. Um Verbraucher zu entlasten, will die IEA außerdem überhöhte Gewinne abschöpfen, die bei Versorgern aufgrund der aktuellen Verwerfungen anfallen könnten.
Die IEA-Punkte 6 bis 9 betreffen den Wärmesektor. Gasheizungen sollen durch elektrische Wärmepumpen ersetzt und gleichzeitig Gebäude mit Dämmung und besserer Regelung effizienter gemacht werden, um den gesamten Bedarf zu senken. Als ausgesprochene Lowtech-Lösung wird drittens die Möglichkeit genannt, Heizungen schlicht niedriger zu stellen, was für Büros sogar gesetzlich vorgeschrieben werden könne. Der letzte Punkt des Programms ist wieder sehr allgemein: mehr Diversifizierung und Flexibilität im Energie-System, unter anderem mit Batterie-Speichern und lokal gefördertem oder synthetisierten Gas.
Gas für Europa zu 30-40% aus Russland
Laut der Beratungsfirma Aurora deckt Russland derzeit 30-40 Prozent des Gas-Bedarfs in Europa und ist damit der größte Einzellieferant. In drei Szenarien rechnet sie für den besten Fall damit, dass der Krieg um die Ukraine vor Ende dieses Jahres beendet ist. Dann würden die bestehenden Pipeline-Kapazitäten nach ihren Berechnungen ausreichen, um sogar etwas mehr russisches Gas nach Europa zu importieren als 2021. Im zweiten Szenario zieht sich der Konflikt hin und Transfers durch die Ukraine fallen komplett weg. Und im Worst-Case-Szenario von Aurora kommt bis 2025 keinerlei russisches Gas mehr nach Europa.
Spontan würden die meisten Europäer wohl dieses letzte Szenario bevorzugen, doch es kommt nicht ohne Kosten. Allein für die nächste Winter-Saison von Oktober 2022 bis März 2023 würden laut Aurora 109 Milliarden Kubikmeter Gas weniger zur Verfügung stehen, etwa 38 Prozent der angenommenen Gesamtmenge (s. Grafik oben). Verkleinern lasse sich die Lücke mit mehr Flüssiggas-Importen, höherer Produktion in Norwegen, den Niederlanden und Großbritannien sowie Importen aus Nordafrika. So blieben immer noch 55 Milliarden Kubikmeter auszugleichen. Die könnten sich Speichern entnehmen lassen, schreiben die Berater. Damit die vorher ausreichend gefüllt sind, brauche es aber zusätzliche Preis-Anreize für die Betreiber. Die zusätzlichen Kosten dadurch werden auf 60-100 Milliarden Euro geschätzt.